Wider die Macht der Unvernunft

 

Das technologische Zeitalter, das ganz wesentlich durch Maschinen und Ökonomien beherrscht wird, befördert nicht nur unseren Wohlstand in ungeahnte Höhen. Es treibt auch viele Menschen in die alte Ohnmacht akzeptierter Unwissenheit, und damit in den geistigen Zustand der Voraufklärung zurück. Ein Plädoyer für den kritischen Geist.

Von Frank Lisson

 

Heute ist in den westlichen Gesellschaften ein Zustand erreicht, in dem der Mensch mit der Funktionalität einer Maschine aussortiert, was dem eigenen sozialen Ansehen und Fortkommen zu nützten scheint und was nicht. Danach richtet sich die Intelligenz: es kommt nicht mehr darauf an, die Dinge zu begreifen, denn das ist in der technologisierten, medial übersteuerten Welt gar nicht mehr möglich, sondern den Umgang mit ihnen zu beherrschen. Anwendungsintelligenz ist die Intelligenz des technischen Zeitalters, während der Mensch des 18., 19. und 20. Jahrhunderts noch überwiegend von seiner Bewertungsintelligenz geleitet wurde. Das zeigen die vielen philosophisch und politisch höchst unterschiedlichen Weltanschauungen, die damals in Europa blühten, sowie die oft grosse Opferbereitschaft, mit der für die eigene Überzeugung eingetreten wurde.

 

Eine Ursache dieses Wandels mag darin bestehen, dass in Zeiten des modernen Versorgungs- und Bevormundungsstaats jedermann auf Anwendungsintelligenz hin trainiert wird, wodurch die Begabung zur Bewertungsintelligenz verkümmert: ein Riesenapparat aus Ämtern und Institutionen nimmt dem Bürger das Denken und Beurteilen ab, wodurch er allmählich die Fähigkeit, selbständig Entscheidungen zu treffen, verlernt. Unter diesen Umständen gerät er gar nicht erst in Versuchung, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, weil er alle Kompetenzen, die ihn zum «mündigen Bürger» machen würden, von vornherein an den Staat abtritt. Von da an muss der Bürger auf den Staat «vertrauen», wie auf den Mechaniker, dem er sein Auto oder seinen Computer in Reparatur gibt, weil er selber nicht in der Lage ist, den vielleicht wichtigsten Gegenstand seines Lebens funktionstüchtig zu erhalten. In diesem Sinne will auch der von der Welt überforderte Mensch funktionieren, indem er seine Begabung zur Bewertungsintelligenz hinter das Vertrauen in die Autorität bestimmter Anwendungsintelligenzen zurückstellt. Doch was im technischen Bereich aufgrund hochkomplizierter Entwicklungsfortschritte für den Laien als notwendiges Übel hingenommen werden muss, darf sich nicht auch auf den Staat als letzte und einzige «Kompetenzinstanz» übertragen. Wenn das geschieht, wird der Mensch nämlich in seiner Hilflosigkeit anfällig für Hysterien und Stimmungsmache aller Art sowie für die selbstbetrügerischen Beruhigungseffekte und Fehlschlüsse, die damit verbunden sind. Dann klingen folgende, jedoch zu kurz gedachte Feststellungen durchaus logisch:  verbietet der Staat religiös bedingte Verschleierungen in der Öffentlichkeit (wie neuerlich in Frankreich, Belgien und den Niederlanden),  fördert das die Integrationsbereitschaft von Muslimen; verzichtet der Staat auf Atomenergie, verhindert er auf einzig mögliche Weise die drohende Verstrahlung des Kontinents; führt der Staat Quoten und Sprechverbote ein, schafft er eine «gerechtere» Welt; usw.

 

Das alles hat mit den europäischen Ideen der Aufklärung (Verteidigung individueller Freiheiten, Bemüssigen der eigenen Vernunft und somit Kritik an struktureller Bevormundung), nichts mehr zu tun, sondern deutet vielmehr auf eine zunehmende Ideologisierung sämtlicher Lebensbereiche aus Angst vor Eigenverantwortung. Nur noch wenige verweisen deshalb auf die individuellen Selbstbestimmungsrechte von Muslimen, kaum jemand fragt nach Fukushima noch nach wahrscheinlichen Energieversorgungsengpässen ohne Atomstrom – und die Political Correctness hat sich ohnehin längst auf allen Gesellschaftsebenen durchgesetzt: sich herrschenden, vermeintlich zeitgemässen, auf Ressentiments basierenden Gesinnungen anzuschliessen schützt vor der Einsicht in die eigene Ohnmacht; der Parteigänger einer moralisch wohlfeilen Meinung verbirgt durch Zustimmung und Teilnahme am «Angesagten» seine Unfähigkeit, das Problem wirklich lösen zu können. An die Stelle bedächtiger, aufklärender Reflexion tritt der das Denken gewollt einschränkende Reflex. 

 

Das System EU

 

Profiteurin dieses Wandels ist die Politik. Sie bedient die steigende Nachfrage nach Problemlösungsansätzen, derer Entdeckung sich der Bürger nicht mehr befleissigen will. Die Haltung ist für Politik wie Bürger zunächst bequem, doch Systeme, die dergestalt auf Ideologien gründen, sind ihrem Wesen nach dogmatisch und folglich nicht reversibel; sie können nicht zurück, sondern müssen auf Kurs bleiben, selbst wenn dieser Kurs unverkennbar in die Selbstvernichtung führt. Anschauliche Beispiele hierfür bieten die Systeme des Faschismus und des Kommunismus: beide verharrten solange in ihrer Unvernunft, bis sie gescheitert waren. Das gleiche dräut dem System EU in seiner gegenwärtigen Form, das inzwischen mit totalitärer Rhetorik abgestützt werden muss, weil die Politische Klasse längst den überwiegenden, jedoch zumeist passiven Teil der Bevölkerungen gegen sich hat. Folglich erklärt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Politik kurzerhand für «alternativlos» und verkündet, Europa sei ohne den Euro nicht mehr «denkbar». Wer den Euro abschaffen wolle, gefährde den «Frieden», heisst es – der gleiche Vorwurf, mit dem einst die Gegner des Sozialismus auf Linie gebracht werden sollten.

 

Tatsächlich aber ist die Behauptung absurd, Europa müsse «scheitern», sobald etwa Griechenland aus der Eurozone ausscheide. Denn schliesslich kommt «Europa» auch ohne Großbritannien, Norwegen, Dänemark, Schweden und die Schweiz aus; die sich allesamt hüten werden, der Eurozone beizutreten. – Was steckt also hinter dieser rhetorischen Drohgebärde und der wahnwitzigen Nibelungentreue, mit der die Parole ausgegeben wird, Griechenland müsse um jeden Preis «gehalten» werden? Hier greift eben jener oben beschriebene Mechanismus, der den Abbruch einer ideologischen – das heisst: auf Anwendungsintelligenz basierenden – Aktion unmöglich macht, sobald das System, das sie trägt, mit dieser Aktion identisch geworden ist. So wenig beispielsweise das nationalsozialistische System 1944 hätte sagen können: zugegeben, das war eine dumme Idee mit dem Krieg, lasst uns jetzt damit aufhören – das heisst: verlieren; so wenig kann das System EU von sich aus den Euro wieder abschaffen – und damit seine Niederlage eingestehen. 1944 war schon zu viel zerstört, zu viele waren bereits gefallen. Analog dazu sind heute schon zu viele Milliarden Euro verbrannt, ist ein zu grosser Schaden angerichtet worden. Die jeweiligen Verantwortlichen wären blamiert, ihre Ideologien widerlegt. So wie das NS-System mit dem System Krieg, das kommunistische System mit dem System Mangelwirtschaft schliesslich identisch wurden, so ist das System EU heute mit dem System Euro identisch. Das heisst: ist eine gewisse Schadensgrenze überschritten, muss das dafür verantwortliche System siegen oder komplett scheitern. Tertium non datur!

 

Schlechte Ausgangssituation

 

Es tritt die Situation ein, da um der «Sache willen» Politik gegen die eigene Bevölkerung gemacht wird – und die Hauptaufgabe der Politischen Klasse darin besteht, den Menschen zu vermitteln, dass das Opfer, das sie zu bringen haben, ein unausweichliches, ja überlebensnotwendiges sei. Um Menschen grössere Opfer abverlangen zu können, ohne offenen Widerstand hervorzurufen, ist es psychologisch nötig, das eigene Tun geschichtsmissionarisch aufzuladen und das Ziel, das man verfolgt, als «historische Verpflichtung» einzufordern. Damit ist jeder vernunftgeleiteten Kritik am Irrationalen die moralische Grundlage entzogen. «Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa» – und selbstredend darf und wird niemand wollen, dass «Europa scheitert», dem von klein auf beigebracht wurde, dass nur ein nationalstaatlich entmündigtes, zentralisiertes und egalisiertes Europa «Frieden», «Wohlstand» und «Weltoffenheit» garantiere. Lauter Kampfbegriffe aus der Schule der Anwendungsintelligenz, in eine semantische Abhängigkeit gebracht, die keiner Prüfung durch die Bewertungsintelligenz standhält; nicht nur, weil die Verbindungen logisch keineswegs zwingend sind, sondern auch und vor allem, weil die moralische Konnotation der Begriffe jeden anderen Schluss von vornherein disqualifiziert. Euro-Kritiker sind unter diesen Bedingungen innerhalb des EU-Systems von Anfang an gleichermassen inakzeptabel wie anderenorts «Vaterlandsverräter» oder «Konterrevolutionäre».

 

Ein gerüttelt Mass an Bewertungsintelligenz wäre also vonnöten, um uns überhaupt erst einmal für die Lage zu sensibilisieren, in die uns der Verzicht auf kritisches Hinterfragen laufender Prozesse gebracht hat. Zuletzt besteht die Herausforderung für jeden Einzelnen darin, die Balance zwischen Bewertungs- und Anwendungsintelligenz zu halten; was in diesem Kontext vor allem bedeutet, den Mut aufzubringen, sich gerade dann für die Werte der Aufklärung und gegen den zivilgesellschaftlichen Dogmatismus einzusetzen, wenn es am unpopulärsten ist.

 

Schweizer Monat, Oktober 2011, online