Warum provozieren?

 

Wer provoziert, will andere herausfordern. Jemanden herausfordern heißt, ihn aus einer geschützten Stellung hervorzulocken, in der man sich selber nicht befindet. Denn nur ein Gegner, der sich stellt, ist angreifbar. Im postdemokratischen Zeitalter sind die Gegner aber keine politischen Parteien mehr, sondern Geistestypen, die zwei unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen angehören, verkörpert durch zwei grundverschiedene Ideen. Diese Ideen begründen zwei konträre Wertsysteme, die in einem Ablösungsverhältnis stehen, das, solange es sich noch nicht gänzlich vollzogen hat, das Bewusstsein für die Gegnerschaft ermöglicht. Es sind die Idee der Freiheit und die Idee der Gleichheit, denen jeweils eine andere Logik und folglich auch ein anderer Menschentypus zugrunde liegt. Die sich daraus ergebenden Kämpfe sind strenggenommen keine »kulturinternen« mehr, wie etwa die zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Bolschewisten und Faschisten, oder zwischen Sozial- und Christdemokraten, deren ideelle Basis stets eine gemeinsame ist, sondern solche einer Übergangsentwicklung von einem Wertesystem in ein anderes. Was sich in Deutschland und Europa –seit einigen Jahrzehnten beschleunigend – vollzieht, muß als Soziogenese bezeichnet werden, das heißt als ein Prozeß, in dem sich kulturelle Eigenschaften komplett wandeln, etwa wenn der Geist nicht mehr als Substanz oder Wesen der Freiheit, nicht mehr als das „Bei-sich-selbst-Sein[1] aufgefaßt wird, sondern als bloßes Funktionsorgan, oder gewisse Eigenschaften ganz verschwinden, wie der Instinkt zur kulturellen, nationalen oder religiösen Selbstbehauptung.

Im Unterschied zu den alten Ideologien, die zeitlich parallel zueinander standen und sich deshalb im gleichen »Raum« befanden, haben wir es heute mit einer Konstellation des Nacheinander zu tun. Die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts: Sozialismus, Faschismus, Demokratismus in all ihren Varianten, sind sich insoweit verwandt, als daß ihr ideeller Ursprung in der Logik der Gleichheit liegt. Von dort aus liefern sie nur jeweils andere Interpretationen der gleichen Grundidee. Dieser Umstand hat sie zu »gleichwertigen« Gegnern gemacht, die nur solange sinnvoll miteinander konkurrieren konnten, wie der Kampf um das »Richtige« noch nicht als entschieden galt.

Die Wertvorstellungen, um die es dagegen heute geht, stehen entwicklungsgeschichtlich nicht mehr nebeneinander, sondern hintereinander. –Diese spezielle Situation erlaubt es überhaupt erst, von echter Provokation zu sprechen, da die beiden Ideen nicht »gleichwertig« sind, sondern typologische Gegensätze verkörpern, von denen der eine zudem im Bergriff ist, den anderen völlig zu verdrängen.

Wenn eine historische Tendenz die Vernichtung all dessen betreibt, was mindestens zehn Generationen lieb und teuer gewesen ist, weil diese darin zu sich selbst gefunden haben, nämlich die Identität über heimische Werte und kulturelle Besonderheiten, die Erben dieser Generationen sich aber mit großer Mehrheit an der Vernichtung des Tradierten beteiligen, bzw. aus Opportunität oder Resignation nichts dagegen unternehmen, dann zeigt das die enorme Kraft historischer Tendenzen, denen jede Kultur unterworfen ist. Naturgemäß gehorchen Menschen stets der jeweils dominierenden Tendenz, da sich ihr anzuschließen leben nach aktuellen Bedingungen heißt. Laut demoskopischer Untersuchungen nimmt das Interesse an Bildung, Kunst, Kultur und Politik unter den bis 30jährigen in Deutschland rapide ab. In den (multiethnisch) Heranwachsenden vollzieht sich jener Wandel am deutlichsten, der die abendländischen Wertvorstellungen aus fünf Jahrhunderten in kürzester Zeit vergessen machen wird. Die große historische Tendenz, die vor knapp 250 Jahren das Zeitalter der Aufklärung, der Bildung, der »nationalen Werte« in Deutschland eröffnete und die Deutschen ein Volk von »Dichtern und Denkern« werden ließ, hat eine noch gewaltigere Tendenz abgelöst, in der nahezu das Gegenteil jener klassischen Richtlinien bestimmend geworden ist.

Wer jetzt für die Werte des verdrängten Typus eintritt, sabotiert die Tendenz, verweigert sich dem bereits Entschiedenen und bildet daher jenen buchstäblichen Sand im Getriebe, der den Verlauf des Übermächtigen stört: er provoziert. Die echte Provokation ist erst dann gegeben, wenn die Gegner in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Hätte Goliath David herausgefordert, wäre das keine Provokation, sondern eine Verhöhnung. Steht ein Vertreter der CDU einem der Linken gegenüber, ist das nicht einmal eine Herausforderung, sondern ein sophistisches Geplänkel um Detailfragen. Die Provokation aber bedingt die objektive Aussichtslosigkeit und Andersartigkeit des Herausforderers. Und genau darin liegt ihre Berechtigung, liegt ihr Reiz: eine Übermacht durch ein an sich schon Verlorenes herauszufordern, um die Natur der Dinge durcheinanderzubringen. Provozieren heißt, mit dem Ernsten spielen, so als habe es gar keine Macht über den Spieler.

Die Idee der Freiheit ist keine anthropologische Konstante, sondern die Eigenart einer bestimmten kulturellen Entwicklung Europas. »Freiheit« kann verlernt werden wie gewisse handwerkliche Fertigkeiten, die aus der Mode gekommen sind. Denn die Idee der Freiheit hat ihren historischen Ort, an dem sie strukturell gebunden bleibt und von wo aus sie ihrem Wesen nach eigentlich nur begriffen und erlebt werden kann. Alles, was wir unter »Freiheit« verstehen, geht auf diesen Kern zurück. Wer ihn erfassen will, muß in den Denkmustern jener Kultur beheimatet sein, welche die Idee der Freiheit hervorgebracht hat.

Indes ist seit mehreren Jahrzehnten ein geistiger Wandlungsprozeß zu beobachten, der deshalb kaum noch öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, weil sein Verlauf gewissermaßen die Bedingungen seines Verstehens aufhebt, was bedeutet, daß er in der Wahrnehmung der von ihm Betroffenen gar nicht stattfindet. Es ist das allmähliche Verschwinden jener Idee der Freiheit, die langsam aus der Welt gerät, weil die kulturelle Eigenart, aus der sie erwachsen ist, sich aufzulösen scheint wie die Kraft gewisser Rituale oder Bräuche, deren Wirkung die lebendige Idee ihres Verursachers natürlich voraussetzt. Verliert eine bewußtseinsbestimmende Idee an Kraft, weil eine andere sie abgelöst hat und ihr bald niemand mehr anhängt – der Streit zwischen diesen beiden Ideen also gar nicht mehr stattfindet und ihre objektive Gleichwertigkeit damit aufgehoben ist –, erlischt irgendwann sowohl das Verstehen als auch das Verständnis für diese Idee, da die neue Logik zumeist in strengem Widerspruch zur alten steht, was Relativierung, Verwirrung und schließlich Auflösung des Inhalts der alten Idee zur Folge hat: der Begriff wird zur Floskel, sein Inhalt beliebig interpretierbar, bis er schließlich sogar mit seinem Gegensatz verwechselt wird.

Adorno sprach vor über fünfzig Jahren in diesem Zusammenhang von einer »doppelten Entfremdung«: der Mensch des Industrie- und Technikzeitalters sei auch geistig zu einem Industrieprodukt geworden und habe das Bewusstsein für die eigene Entfremdung verloren. Und Alfred Weber konstatierte sogar die Auseinanderentwicklung zweier Menschentypen, die dem hier aufgestellten Modell einer Soziogenese recht nahe kommt: die aussterbende Art des gedankenschweren Idealisten, der durch die des geschichts- und selbstvergessenen Materialisten verdrängt wird, den Alfred Weber den »neuen Primitiven« nannte.

Daß die Logik der Gleichheit die der Freiheit abgelöst hat, und nicht umgekehrt, hängt mit der Richtung zivilisatorischer Prozesse und den daraus folgenden Gesetzmäßigkeiten zusammen, die in das Zeitalter der Massen und somit notwendig in die Logik der Gleichheit führen. Weil dieser Vorgang ein sich selbst nährender und erhaltender und exponentiell beschleunigender ist, kann er auch nicht von innen heraus aufgehalten oder gar verändert werden. Wer innerhalb dieses Prozesses sich selbst sichtbar oder wirksam machen will, muß also klug und flexibel genug sein, Teil des Apparates zu werden. Die Freiheit, von diesem Prinzip abzuweichen und sich gegen die Tendenz seines Zeitalters zu stellen, bildet die Ausnahme, niemals die Regel. Wer »frei« zu denken oder zu handeln versucht, benutzt eine evolutionär entwickelte Leistung des Menschen zu einem Zweck, der von der Natur so gar nicht vorgesehen ist.

Um das Prinzip der »freiwilligen Übernahme« des Denkens und Wollens der großen nivellierenden Tendenz erfolgreich durchzusetzen, verfällt die Logik der Gleichheit einer Form des kollektiven Betrugs, die Max Scheler treffend als »organische Verlogenheit« beschreibt und damit bereits vor dem Ersten Weltkrieg einen psychischen Zustand antizipierte, der zum Charakteristikum der BRD werden sollte. „Neben dem bewußten Lügen und Fälschen gibt es noch das, was ›organische Verlogenheit‹ zu nennen ist. Hier erfolgt die Fälschung nicht im Bewußtsein, wie bei der gewöhnlichen Lüge, sondern auf dem Wege der Erlebnisse zum Bewußtsein, also in der Art der Bildungsweise der Vorstellungen und des Wertefühlens. ›Organische Verlogenheit‹ ist überall da gegeben, wo den Menschen nur einfällt, was ihrem ›Interesse‹ oder was irgendeiner Einstellung der triebhaften Aufmerksamkeit dient und schon im Prozeß der Reproduktion und des Erinnerns in dieser Richtung inhaltlich modifiziert wird. Wer ›verlogen‹ ist, braucht nicht mehr zu lügen!“[2]

Nicht wenige der sich zu Repräsentanten der BRD erhebenden Personen aus Kultur und Politik sind Erzeugnisse wie Erzeuger einer solchen »organischen Verlogenheit«, da sie sich immer nur scheinbar gegen die Objekte richten, die sie zu bekämpfen vorgeben, tatsächlich aber deren Fortführung mit anderen Mitteln und unter einer anderen Moral betreiben. Statt den Sinn für Ewiges, Eigenes oder Unendliches, haben diese Leute wie gute Boxer einen Instinkt dafür entwickelt, wann sie sich ducken und wann sie zuschlagen müssen. Dieser Instinkt befähigt sie zum institutionalisierten Wächteramt über die »organische Verlogenheit«, der sie zugleich ihre eigene moralische Bedeutung verdanken.

Zur Logik der Gleichheit gehört das Ritual wie das Tabu, das die eigenen Wahrheiten sichert, damit diese unangetastet bleiben. „Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts – dies sind die drei Typen von Verboten, die sich überschneiden, verstärken oder ausgleichen und so einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert.“[3] Es gibt seitens der Freien einen Ekel vor der Unterwürfigkeit unter eben diese herrschenden Tabus und Rituale, den entre billetts in den Kultur- und Politikbetrieb. Wo auf bestimmten Gebieten nicht mehr gedacht, sondern nur noch gewacht wird, wo der eingeübte Reflex das Argument ersetzt, wo ganze Denkrichtungen ausgeschaltet sind, ist die Demokratie nur noch eine theoretische. Der Anschein bleibt gewahrt, solange die Institutionen bestehen und in Ruhe gelassen wird, wer sich nicht ernsthaft einmischt. Zwar wird niemand daran gehindert, den Anschein als solchen zu benennen, was bedeutet, daß damit der Kritiker im Grunde schon widerlegt sei, obwohl jeder weiß, daß er nur solange sprechen darf, wie seinen Worten keine Taten folgen.

Die Provokation will genau daran erinnern. Denn „es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.“[4] Die Logik der Freiheit basiert dagegen auf der Naivität, ohne eine solche »Polizei« auszukommen. Die Furcht vor den Regelverstoß bildet die Nabelschnur, an der wir, die wir »im Wahren« sein wollen, alle hängen, weil sie uns nährt. Wagt jemand den Schnitt durch diese Nabelschnur, wird er daran »sterben«, denn er verliert die Bindung an die Kartelle des Diskurses. In der regulierten Öffentlichkeit, dem Umschlagplatz der »organischen Verlogenheit« in seriöses Tagesgerede, bleibt folglich derjenige, der das »wilde Außen« bewohnt, immer ungehört. Die Provokation ist ein kleiner Aufstand gegen diesen uns täglich bedrohenden »Tod«. Sie ist ein Versuch, aus dem beschriebenen Determinismus auszubrechen und dem »Wahren« des Diskurses so etwas wie die »eigene Wahrheit« eines »freien Willens« entgegenzusetzen.

Somit ist die echte Provokation, die immer der Logik der Freiheit folgt und deshalb für echte Irritation unter den Gleichen sorgt, Ausdruck eines »freien Willens«, während die scheinbaren Provokationen, etwa die eines Schlingensief oder einer Charlotte Roche, aus der Logik der Gleichheit erwachsen und damit den Rand jenes nonkonformen Konformismus abstecken, der seine Protagonisten als besonders flexibel oder fit im darwinschen Sinne ausweist.

Die Logik der Freiheit ist dagegen eine Logik des Abstandes, der Differenzierung, der gesuchten geistigen Unabhängigkeit. Folglich ist sie eine Logik des Unnatürlichen, der Exklusivität, die sich ihres sonderbaren Zustandes durch die Gegenüberstellung der Logik der Gleichheit überhaupt erst bewußt wird. Nicht zufällig erblühte die Logik der Freiheit in Deutschland zu einer Art Nationalcharakter und brachte den Deutschen Idealismus und die Romantik hervor, als absehbar wurde, daß sie durch eine andere Idee existentiell bedroht ist, nämlich durch die sich zeitgleich in Frankreich erhebende Logik der Gleichheit. – Das Aneinandergeraten dieser beiden gegensätzlichen Ideen und Prinzipien bildete die Ursachen für die großen geistigen und militärischen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa.

Unter der Herrschaft verwirklichter Gleichheit, die das Resultat jener Kämpfe war, ist die Idee der Freiheit aufgehoben wie das Kurant einer Währung, die nicht mehr gilt, ohne daß damit jedoch das System von Geldeinheiten als solches hinfällig geworden wäre. Es hat nur eine neue Wertigkeit erhalten, die nun jeder, der am Markt teilhaben will, übernehmen muß. Deshalb lohnt es sich genaugenommen auch nicht, über den Wert der alten Währung zu streiten, da diesem nur noch historische Bedeutung zukommt. Und tatsächlich findet eine öffentliche Debatte über die Idee der Freiheit seit geraumer Zeit nicht mehr statt, weil sich die Denkmuster inzwischen derart verschoben haben, daß den Diskutierenden schlichtweg eine übereinstimmende Begrifflichkeit fehlen würde. Wer innerhalb der Logik der Gleichheit über »Freiheit« spricht, ähnelt darin Bekehrten, wie den frühen Christen, die, wenn sie über »Liebe« sprachen, eben nicht mehr den antiken Eros meinten, sondern im gewissen Sinne das Gegenteil davon.

Moralen spiegeln also weniger die ethische Entwicklung von Menschen wider, als vielmehr deren jeweilige Strategie zur mentalen Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. Wer Tugenden »von gestern« anhängt, beweist damit keine moralische Höher- oder Geringwertigkeit, sondern nur seinen Mangel an Flexibilität, der auch als Trotz oder als bewußte Verweigerung ausgelegt werden kann. Denn die Forderung nach totaler Flexibilität impliziert die Bereitschaft, allen sich »wie von selbst« bildenden Moden und Denkanweisungen ungeprüft zu folgen, was vor einem Rückfall in die Logik der Freiheit bewahrt.

Der Freie wird durch die Logik der Gleichheit abgestoßen, weil diese immer auf geistige Gleichschaltung hinausläuft. Er will nicht werden wie die Produkte des Zeitgeistes, deren Typus sich durch ganz bestimmte Codes und Reflexe identifiziert, die zur Mitgestaltung des Bestehenden berechtigen. Deshalb leidet er unter dem Zwang zum Ausbruch aus der »organischen Verlogenheit«, die seine Kinderstube war, und zur großen Loslösung von allem, was ihn zum Mitmachen an dieser »Verlogenheit« verführen will: „Die grosse Loslösung kommt ... plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen ... eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. ›Lieber sterben als hier leben‹ ... ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft.“[5] – Das ist die Logik der Freiheit. Und es ist dieses Verlangen nach Wanderschaft, das den freien Geist in die Provokation treibt, die unter den gegebenen Umständen der einzige Ort ist, an dem er seine Verschiedenheit leben kann.

Der Provokateur konfrontiert den Provozierten mit dem ganz Anderen, nämlich mit der Möglichkeit des Widerstandes gegen dessen allmächtige Moral. Die fremde, weil zeitlose Wahrheit des Provokateurs dringt für einen kurzen Moment in die Wahrheit der institutionalisierten Wächter des öffentlichen Wortes, und setzt diese für einen Augenblick außer Kraft, indem sie an eine Freiheit erinnert, die längst verlernt worden ist. Die Kartelle fürchten um den Verlust ihre Deutungshoheit über das »Richtige«, schreien kurz auf, bis sie sich schließlich aber besinnen, daß keine Gefahr besteht. Denn das Auftreten des Provokateurs selbst beweist, wie weit der Siegeszug der historischen Tendenz bereits fortgeschritten ist. Die Provokation wäre eben keine echte Provokation, wenn sie nicht aus der Position der Aussichtslosigkeit heraus agierte.

Um jedoch überhaupt Beachtung zu finden, muß sich die Provokation zunächst der Methoden ihrer Gegner bedienen. Aber bereits darin verrät sich schon der Kern ihrer eigentlichen Absicht: die des Ausdrucks der Missbilligung durch Spott. Doch es ist nicht der Spott des Neiders, sondern der des karnevalistischen Hohngelächters über die Banalität des Faktischen, der sich bisweilen die Bühnen der Anderen erstürmt, doch nicht, um darauf als deren neuer Protagonist sichtbar zu werden, sondern aus Verachtung der Bühne selbst.

Der Mensch, der sich unter der Herrschaft der Logik der Gleichheit als ein »freier« beweisen will, bedarf also der Provokation, um den Beweis seiner Freiheit zu erbringen. Indem er die herrschende Moral herausfordert, zeigt er, daß er kein Produkt ihrer Logik, sondern in einer anderen beheimatet ist. Das verleiht dem Provokateur eine Eigenart, die ihn aus dem öffentlichen Diskurs ausschließt. Und deshalb bleibt die Provokation solange eine notwendige Regung des geistigen Widerstandes gegen die institutionalisierten Wächter der »organischen Verlogenheit« dieses Landes, wie die Idee der Gleichheit die der Freiheit noch nicht gänzlich ausgelöscht hat.

 

                              Sezession, Nr. 33, Dezember 2009 



[1] Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1978, S. 30.

[2] Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (zuerst 1912), Frankfurt a. M. 1978, S. 33.

[3] Michel Foucault, Ordnung des Diskurses (1970), Frankfurt a. M. 1991, S. 11.

[4] Ebd., S. 25.

[5] Friedrich Nietzsche, Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, S. 16.